WILD WIE BILD - GSCHEIT WIE ZEIT

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Dienstag, 3. Juni 2014

Tempelhof




Auch wenn ich mich für einen kaum erreichbaren Meister in der Kunst halte, mich von den schalen Schalen der Dinge ebenso wenig irritieren zu lassen wie vom täuschungsorientierten Gehabe plumper  Blender , sondern tiefschürfende und  treffsichere Blicke auf das Wesen der Dinge werfe… - so gibt es doch auch ab und zu andere, denen durchaus geglückte Analysen gelingen.

Anläßlich der Entscheidung der Berliner (am 25. Mai 2014)  zur Verschonung des Geländes des alten Flughafens  Tempelhof vor allerhand „Randbebauung“ gefielen sich weite Teile rechercheunlustiger und klischeegeiler Presseorgane in erneutem Aufwärmen eigener Weisheiten aus dem Schublädchen

Was wir schon IMMER über die Berliner wussten


Für mich sehr wohltuend hiervon abgehoben hat sich ein Kommentar von
Brigitte Fehrle in der Berliner Zeitung vom 27. Mai 2014.
Ohne aufgeblasenes Wortgeklingel (wie meins zB), schlicht und treffend.
Hier der Nämliche ungekürzt, wie in der BZ abbjedruckt – ich habe ihm allerdings etwas mehr Absätze gegönnt als die BZ und ein paar Fotos von Michael Rabenstein eingefügt  (geschossen am 17.12.2012) :


Die Sehnsucht nach dem weiten Feld

Selten wurde eine politische Entscheidung so eindeutig getroffen wie die über die Zukunft des Tempelhofer Feldes. Mehr als 65 % sind im Durchschnitt gegen die Bebauung. In allen Stadtteilen gab es eine Mehrheit für das freie Feld. Die Berlinerinnen und Berliner sind sich einig. In völlig unterschiedlichen Stadtteilen wie Spandau, Friedrichshain, Zehlendorf oder Hellersdorf haben sie Ja gesagt  zur Bürgerinitiative und Nein zum Senat.

Aber warum? Kaum denkbar, dass alle die selben Motive für ihre Entscheidung haben. Es scheint ehr so, als hätten sich die Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen auf dasselbe Ziel zubewegt.
Wagen wir also eine kleine Typologie der Befürworter des freien Feldes.
Da sind die Entschleuniger, Menschen, die abends ich re Freunde anrufen und dann mit einer Flasche Prosecco und einer Decke auf dem Feld den Sonnenuntergang geniessen.
Oder die modernen Kleingärtner, Leute, die Zäune nicht mögen und trotzdem eine kleine Scholle mögen, um ihre eigenen Salatköpfe ernten zu können.
Oder  die Freizeitaktivisten : Radler, Kitesurfer, Langläufer, Jogger, denen andere Flächen der Stadt nicht genug Herausforderungen bieten.



Und dann sind da noch die Gemütlichen: Familien, denen Picknick im Grünen ohne allzu viele Menschen heilig ist und die keine Lust haben, dafür an den Stadtrand zu fahren.

Und dann  gibt’s auch diejenigen, die nie auf dem Feld waren, dort auch nie hin wollen, denen das Feld eigentlich völlig egal ist und die dennoch Nein zur Bebauung gesagt haben. Das sind die Politischen, Leute, die jede Gelegenheit wahrnehmen, um den etablierten Apparat zu stören.
Oder die Kritischen. Das sind Bürger, denen die Politik der Berliner Regierenden  nicht gefällt und jetzt eine Gelegenheit gesehen haben, das zu zeigen.

Die womöglich mit Abstand größte Gruppe, die am Sonntag Ja gesagt hat zu 100 Prozent Tempelhof sind die Nachdenklichen. Die haben sich gesagt: Eine Fläche wie das Tempelhofer Feld ist ein Jahrhundertgeschenk. Damit wir das Bestmögliche tun, brauchen wir Zeit.


Die politisch Verantwortlichen haben unterschätzt, was diese freie Fläche in den Köpfen und Herzen der Menschen bewirkt. Ihnen ist nicht klar, wie wichtig für Berlin Orte sind, die einem das Gefühl geben, frei zu sein. Ohne dieses Gefühl von Freiheit wäre Berlin nicht Berlin. In der Mauerstadt wurde die politische Freiheit verteidigt. Auf dem Alexanderplatz wurde sie erkämpft. Heute will sie erlebt werden. Auf Brachflächen, in wilden oder weniger wilden Clubs, im toleranten Zusammenleben von Milieus, Religionen und Lebensstilen. Aber eben auch beim Picknick auf der endlosen Weite des Flugfeldes. Freiheit ist die Währung dieser Stadt. Ohne Freiheit wäre Berlin eine banale Großstadt. Aber Berlin ist ein Sehnsuchtsort. Sehnsuchtsorte kann man nicht planen, sie sind nicht machbar. Sie entstehen da, wo Menschen sie suchen und finden.

Schaut man auf das Tempelhofer Feld, verblassen die guten Argumente derer, die Wohnungen bauen wollen.

Es geht aber auch ganz anders. Nüchtern, banal, brutal. Wer Misstrauen gegen den Senat und seine guten Absichten hat, findet viele Argumente. Braucht man die Flächen am Tempelhofer Feld für preiswerten Wohnungsneubau? Nein. Wo hat der Senat in den vergangenen zehn Jahren glaubhaft bewiesen, dass er in der Lage ist, Wohnungspolitik für Mieter zu machen? Schwer zu sagen. Warum hat der Senat über so lange Zeit seine Flächen meistbietend an Investoren verkauft, statt Genossenschaften oder landeseigene Wohnungsbaugesellschaften bauen zu lassen? Weil er sich als arm und sexy bezeichnet hat, dabei aber nur arm und phantasielos war. Wieso verkauft der Bund seine Grundstücke immer noch zu Höchstpreisen, statt sie in Erbpacht für Mietwohnungen zur Verfügung zu stellen? Das ist ohne Worte!

Statt bürokratische Monstergesetze wie die Mietpreisbremse zu beschließen, um die Auswirkungen einer Politik zu begrenzen, die man selbst quasi durch Bodenspekulation verursacht, könnte man einfach handeln, also preiswert bauen (lassen).

Das Tempelhofer Feld aber braucht mehr. Dor muss es um Ideen für das 22. Jahrhundert gehen. Die Tempelhofer Freiheit gibt uns die einmalige Chance, die Stadt der Zukunft zu entwerfen. Wohnen, arbeiten, leben – wie könnte das aussehen? Wenn wir das wissen, wenn wir dafür die Berlinerinnen und Berliner begeistert haben,  dann wird sich keiner mehr daran erinnern, dass wir einst die Brache verteidigen mussten, um den Ausverkauf eines Traums zu verhindern.